Entgegennahme des zuzustellenden Schriftstücks durch Mitarbeiter in Geschäftsräumen

BGH, Beschluss vom 04.02.2015 – III ZR 513/13
Leitsatz:
1. In der widerspruchslosen Entgegennahme des zustellenden Schriftstücks durch eine in den Geschäftsräumen beschäftigte Person (§ 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO) liegt zugleich die (konkludente) Erklärung, dass der Zustellungsadressat abwesend beziehungsweise an der Entgegennahme der Zustellung verhindert ist. Weitere Nachforschungen des Zustellers sind dann regelmäßig nicht veranlasst. (amtlicher Leitsatz)

Gründe:
I. Die Klägerin macht gegen die beiden Beklagten, eine Kommanditgesellschaft und ihre Komplementärin, eine GmbH, als Gesamtschuldner Zahlungsansprüche aus einem Maklervertrag sowie vorgerichtliche Anwaltskosten geltend.

Durch Versäumnisurteil des Landgerichts vom 29. Januar 2013 wurden die Beklagten verurteilt, an die Klägerin 114.240 € sowie vorgerichtliche Anwaltskosten von 2.237,56 € jeweils nebst Zinsen zu zahlen. Ausweislich der Postzustellungsurkunden wurde das Versäumnisurteil am 1. Februar 2013 unter der Geschäftsadresse "F. , G. " an beide Beklagten durch Übergabe an die bei der Beklagten zu 1 beschäftigte L. S. zugestellt. Dabei vermerkte der Zusteller jeweils in den Zustellungsurkunden, den Zustellungsadressaten (den Geschäftsführer der Beklagten zu 2 als deren gesetzlichen Vertreter) in dem Geschäftsraum nicht erreicht zu haben.

Mit Telefax vom 26. Februar 2013 haben die Beklagten Einspruch gegen das Versäumnisurteil eingelegt.

In Bezug auf die fristgerechte Einlegung des Einspruchs haben sie geltend gemacht, die Zustellung des Versäumnisurteils sei nicht wirksam erfolgt. Der Zusteller habe die beiden Schriftstücke ohne jede Nachfrage bei der Mitarbeiterin S. abgegeben, obwohl der Geschäftsführer der Beklagten zu 2 in den Geschäftsräumen anwesend und zur Annahme der Zustellung bereit gewesen sei. Am 22. Februar 2013 habe der Geschäftsführer erstmals von dem Versäumnisurteil Kenntnis erlangt.

Das Landgericht hat den Einspruch durch Urteil gemäß § 341 ZPO als unzulässig verworfen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Beklagten nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen.

Dagegen wenden sich die Beklagten mit der Nichtzulassungsbeschwerde.

II. Zulassungsgründe liegen nicht vor. Insbesondere hat die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO).

1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat eine Rechtssache grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine entscheidungserhebliche, klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage aufwirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen stellen kann und deswegen das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt, das heißt allgemein von Bedeutung ist (grundlegend BGH, Beschlüsse vom 4. Juli 2002 - V ZB 16/02, BGHZ 151, 221, 223 f und vom 27. März 2003 - V ZR 291/02, BGHZ 154, 288, 291 f). Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage dann, wenn die durch das Berufungsurteil aufgeworfene Rechtsfrage zweifelhaft ist, also über Umfang und Bedeutung einer Rechtsvorschrift Unklarheiten bestehen. Derartige Unklarheiten bestehen unter anderem in den Fällen, in denen die Rechtsfrage vom Bundesgerichtshof bisher nicht entschieden ist und von einigen Oberlandesgerichten unterschiedlich beantwortet wird, oder wenn in der Literatur unterschiedliche Meinungen vertreten werden. Klärungsbedürftige Unklarheiten liegen dagegen nicht vor, wenn abweichende Ansichten in der Literatur vereinzelt geblieben und nicht oder nicht nachvollziehbar begründet sind (BGH, Beschluss vom 8. Februar 2010 - II ZR 54/09, NJW-RR 2010, 1047 Rn. 3 mwN).

2. Danach hat die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung. Die von der Beschwerde formulierte Rechtsfrage, ob das für die Ersatzzustellung in den Geschäftsräumen nach § 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO erforderliche Tatbestandsmerkmal des "Nichtantreffens" des Zustellungsadressaten eine ausdrückliche Nachfrage des Zustellers nach der Anwesenheit des Adressaten voraussetzt, ist nicht klärungsbedürftig. Die hierzu veröffentlichte Rechtsprechung der Oberlandesgerichte ist einheitlich. Davon abweichende, nicht näher begründete Stimmen in der Literatur sind vereinzelt geblieben. Darauf, dass der Bundesgerichtshof die Rechtsfrage noch nicht entschieden hat, kommt es nicht an (Zöller/ Heßler, ZPO, 30. Aufl., § 543 Rn. 11 mwN).

a) Nach der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung ist das Merkmal des "Nichtantreffens" des gesetzlichen Vertreters als Voraussetzung für eine Ersatzzustellung in Geschäftsräumen bereits dann erfüllt, wenn der gesetzliche Vertreter als abwesend oder verhindert bezeichnet wird. Ob dies zutrifft, ist unerheblich; insbesondere muss der Zusteller keine eigenen Nachforschungen darüber anstellen, zumal gerichtliche Zustellungen ein Massengeschäft sind und bei juristischen Personen die Ersatzzustellung inzwischen den Regelfall darstellt (OLG Frankfurt am Main, WM 1996, 699 [OLG Frankfurt am Main 26.06.1995 - 6 U 27/95]; NJW-RR 1998, 1684 [OLG Frankfurt am Main 17.11.1997 - 6 W 109/97]; OLG Köln, OLGR 2001, 116, 117; siehe auch FG Hamburg, Urteil vom 30. Januar 2004 - III 320/03 , [...] Rn. 97 und OVG Berlin-Brandenburg, NJW 2012, 951, 952 [OVG Berlin-Brandenburg 23.12.2011 - OVG 1 N 2.10]). In Übereinstimmung mit dieser Rechtsprechung ist das Berufungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass in der widerspruchslosen Entgegennahme des zuzustellenden Schriftstücks durch eine in den Geschäftsräumen beschäftigte Person (§ 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO) zugleich die (konkludente) Erklärung liegt, der Zustellungsadressat sei abwesend beziehungsweise an der Entgegennahme der Zustellung verhindert, und weitere Nachforschungen des Zustellers regelmäßig nicht veranlasst sind. Der Umstand, dass die vorgenannte oberlandesgerichtliche Rechtsprechung zu §§ 183, 184 ZPO in der bis zum 30. Juni 2002 geltenden Fassung ergangen ist, ist für die Entscheidung der Streitfrage ohne Bedeutung. Die Neuregelung des Zustellungsrechts durch das Zustellungsreformgesetz vom 25. Juni 2001 (BGBl. I S. 1206) hat insoweit keine Änderung gebracht. Sowohl nach § 183 Abs. 1, § 184 Abs. 1 ZPO aF als auch nach § 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO nF hängt die Wirksamkeit der Ersatzzustellung in den Geschäftsräumen davon ab, dass der Zustellungsadressat "nicht angetroffen" wird. Durch das Zustellungsreformgesetz wurde an dem "Nichtantreffen" des Zustellungsadressaten als (gemeinsame) Voraussetzung für sämtliche in § 178 Abs. 1 ZPO geregelten Arten der Ersatzzustellung festgehalten (BTDrucks. 14/4554 S. 20). Nach dem Willen des Gesetzgebers, der eine Vereinheitlichung und Vereinfachung der Ersatzzustellung in einem Geschäftslokal bezweckte (BT-Drucks. aaO S. 1, 13 f), besteht dabei keine Verpflichtung des Zustellers zur ausdrücklichen Nachfrage nach der Person des Zustellungsadressaten. Es reicht aus, dass er den Zustellungsadressaten in dem Geschäftsraum, in dem sich der Publikumsverkehr abspielt, nicht antrifft. In diesem Fall kann er das zuzustellende Schriftstück an eine dort beschäftigte Person übergeben (BT-Drucks. aaO S. 20).

b) Eine Verpflichtung des Zustellers zur ausdrücklichen Nachfrage ergibt sich auch nicht aus dem von der Beschwerde in Bezug genommenen Urteil des Bundesgerichtshofs vom 14. März 1990 (VIII ZR 204/89 , BGHZ 111, 1, 6 ). Diese Entscheidung ist nicht einschlägig. Sie betrifft nicht die Ersatzzustellung in Geschäftsräumen, sondern die Ersatzzustellung in der Wohnung des Zustellungsadressaten an dessen nichteheliche Lebensgefährtin nach § 181 Abs. 1 ZPO aF. In einem solchen Fall musste der Zusteller die Voraussetzungen der Ersatzzustellung ("zur Familie gehörender Hausgenosse") durch Befragen des Angetroffenen ermitteln, wenn er die Beziehung des Adressaten zu dem in der Wohnung Angetroffenen nicht kannte und sie ihm auch nicht unaufgefordert genannt wurde. Hier liegt der Fall auch deshalb anders, weil es sich bei der zur Entgegennahme der Zustellung in den Geschäftsräumen der Beklagten zu 1 bereiten Ersatzperson ersichtlich um eine bei dieser beschäftigte Mitarbeiterin im Sinne von § 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO handelte, so dass kein Anlass zu Zweifeln bestand.

c) Die dargestellte Rechtsprechung der Oberlandesgerichte, wonach eine ausdrückliche Nachfrage des Zustellers nach der Anwesenheit beziehungsweise Annahmebereitschaft des Zustellungsadressaten nicht erforderlich ist und es für eine wirksame Ersatzzustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO genügt, wenn eine in den Geschäftsräumen beschäftigte Person zur Annahme bereit ist, wird vom ganz überwiegenden Schrifttum nicht in Frage gestellt (vgl. Baumbach/Lauterbach, ZPO, 73. Aufl., § 178 Rn. 4; Hk-ZPO/Eichele, 5. Aufl., § 178 Rn. 4; MüKoZPO/Wenzel, 2. Aufl., § 181 Rn. 11 und § 183 Rn. 4; Musielak/Wittschier, ZPO, 11. Aufl., § 178 Rn. 2; Prütting/Gehrlein/Tombrink/Kessen, ZPO, 6. Aufl., § 178 Rn. 2; Zöller/Stöber, ZPO, 30. Aufl., § 176 Rn. 2; unklar BeckOK ZPO/Dörndorfer, § 178 Rn. 2; Thomas/Putzo, ZPO, 35. Aufl., § 178 Rn. 5 f). Soweit in der Literatur vereinzelt - ohne nähere Begründung - eine ausdrückliche Nachfrage des Zustellers verlangt wird (Stein/Jonas/Roth, ZPO, 22. Aufl., § 178 Rn. 5 unter Hinweis auf BFHE 173, 213, 215; diese - ohnehin einen anders gelagerten Sachverhalt betreffende - Entscheidung befasst sich jedoch, ebenso wie die Entscheidung BGHZ 111, 1, mit der Ersatzzustellung an einen Familienangehörigen gemäß § 181 Abs. 1 ZPO aF; Roth folgend MüKoZPO/ Häublein, 4. Aufl., § 178 Rn. 4 Fn. 14 und wohl auch Wieczorek/Schütze/Rohe, ZPO, 4. Aufl., § 178 Rn. 3 Fn. 6; siehe auch LG Bonn, Beschluss vom 29. September 2011 - 31 T 34/11 , [...] Rn. 6), wird dies vom Wortlaut des § 178 Abs. 1 ZPO, der nur voraussetzt, dass der Zustellungsadressat "nicht angetroffen" wird, nicht gefordert; diese Gegenauffassung widerspricht auch dem Sinn und Zweck der Vorschriften über die Ersatzzustellung ("Vereinfachung der Ersatzzustellung"). Die abweichenden Ansichten vermögen daher keine höchstrichterlich zu klärenden Unklarheiten über die Voraussetzungen einer wirksamen Ersatzzustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO zu begründen.