BGH, Urteil v. 15.01.2016, V ZR 278/14
Leitsatz:
BGB § 138 Abs. 1 Aa
Bei der Prüfung, ob bei einem Immobilienkaufvertrag ein auffälliges bzw. besonders grobes Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung besteht, sind die von dem Verkäufer übernommenen, üblicherweise von dem Käufer zu tragenden Erwerbsnebenkosten von dessen Leistung abzuziehen (Anschluss an BGH, Urteil vom 18. April 2000 - XI ZR 193/99, NJW 2000, 2352, 2353; Urteil vom 26. Februar 2008 - XI ZR 74/06, NJW 2008, 1585 Rn. 38; Urteil vom 10. Dezember 2013 - XI ZR 508/12, NJW-RR 2014, 653 Rn. 24). (amtlicher Leitsatz)
Entscheidung:
Am 22. November 2011 gab die Klägerin ein notarielles Angebot zum Kauf einer Eigentumswohnung einer in Essen belegenen Wohnungseigentumsanlage zu einem Kaufpreis von 88.000,- € ab, das die Beklagte am 6. Dezember 2011 annahm. Von dem Kaufpreis wurden auf Veranlassung der Beklagten, die sich in dem notariellen Vertrag verpflichtet hatte, die Erwerbsnebenkosten zu tragen, 4.400,- € zur Begleichung der Grunderwerbssteuer verwendet. Die Beklagte zahlte auch die Beurkundungskosten in Höhe von 862,22 € sowie die Kosten für die Grundbuchumschreibung in Höhe von 316,- €. Die Klägerin wurde als Eigentümerin im Grundbuch eingetragen.
Die Klägerin hält den Vertrag wegen überhöhten Kaufpreises für sittenwidrig. Sie verlangt von der Beklagten Rückzahlung des Kaufpreises nebst Zinsen Zug um Zug gegen Rückübertragung des Eigentums an der Wohnung. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat ihr im Wesentlichen stattgegeben.
Der Bundesgerichtshof geht nicht davon aus, dass die Klägerin nach § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB einen Anspruch auf Rückzahlung des an die Beklagte geleisteten Kaufpreises in Höhe von 88.000,- € habe, weil der Kaufvertrag nicht gemäß § 138 Abs.1 BGB nichtig sei.
Ein gegenseitiger Vertrag ist als wucherähnliches Rechtsgeschäft nach § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig, wenn zwischen Leistung und Gegenleistung ein auffälliges Missverhältnis besteht und außerdem mindestens ein weiterer Umstand hinzukommt, der den Vertrag bei Zusammenfassung der subjektiven und der objektiven Merkmale als sittenwidrig erscheinen lässt. Dies ist insbesondere der Fall, wenn eine verwerfliche Gesinnung des Begünstigten hervorgetreten ist. Ist das Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung besonders grob, lässt dies den Schluss auf eine verwerfliche Gesinnung des Begünstigten zu (Senat, Urteil vom 19. Januar 2001 - V ZR 437/99, BGHZ 146, 298, 301 ff., Urteil vom 24. Januar 2014 - V ZR 249/12, NJW 2014, 1652 Rn. 5). Diese Voraussetzung ist grundsätzlich erst ab einer Verkehrswertüber- oder -unterschreitung von 90 % erfüllt (Senat, Urteil vom 24. Januar 2014 - V ZR 249/12, NJW 2014, 1652 Rn. 8).
Bei der Prüfung, ob bei einem Immobilienkaufvertrag ein auffälliges bzw. besonders grobes Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung besteht, seien in dem Kaufpreis enthaltenen und daher nicht zusätzlich von dem Käufer zu zahlenden Erwerbsnebenkosten von dessen Leistung abzuziehen (vgl. BGH, Urteil vom 18. April 2000 - XI ZR 193/99, NJW 2000, 2352, 2353; Urteil vom 26. Februar 2008 - XI ZR 74/06, NJW 2008, 1585 Rn. 38; Urteil vom 10. Dezember 2013 - XI ZR 508/12, NJW-RR 2014, 653 Rn. 24). Die Leistung der Klägerin betrage deshalb lediglich 82.421,78 € (88.000,- € Kaufpreis - 4.400,- € Grunderwerbssteuer - 862,22 € Beurkundungskosten – 316,- € Kosten der Grundbuchumschreibung), so dass sich die Verkehrswertüberschreitung auf 79,18 % belaufe. Eine tatsächliche Vermutung für eine verwerfliche Gesinnung der Beklagten besteht deshalb nicht.
Wenn der Verkäufer zusätzliche Leistungen übernimmt, muss dies auch im Rahmen einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise des Wertevergleichs von Leistung und Gegenleistung berücksichtigt werden. Genauso ist es, wenn der Verkäufer die Erwerbsnebenkosten hierzu gehört auch die Grunderwerbssteuer (Senat, Urteil vom 11. Juni 2010 - V ZR 85/09, NJW 2010, 2873 Rn. 21) - trägt. Fehlt es an einer Vereinbarung der Kaufvertragsparteien, sind diese Kosten gemäß § 448 Abs. 2 BGB im Innenverhältnis von dem Käufer zu tragen. Entsprechend dieser gesetzlichen Regelung ist es auch in der Praxis üblich, in notariellen Grundstückskaufverträgen eine - deklaratorische - Klausel des Inhalts aufzunehmen, dass der Käufer die mit dem Vertrag und dessen Ausführung verbundenen Kosten und Abgaben (Grunderwerbsteuer sowie Notar‐ und Gerichtskosten) allein trägt. Deshalb seien die von dem Verkäufer übernommenen, üblicherweise von dem Käufer zu tragenden, Erwerbsnebenkosten von dessen Leistung abzuziehen (vgl. zu den Auswirkungen auf die Berechnung der Grunderwerbssteuer in diesem Fall BFH, ZNotP 2013, 436 Rn. 16).
Die angefochtene Entscheidung stelle sich nicht aus sonstigen Gründen als richtig dar (§ 561 ZPO).
Besteht - wie hier bei einer Verkehrswertüberschreitung von 79,18 % zwar kein besonders grobes, aber jedenfalls ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung, komme die Anwendung des § 138 Abs. 1 BGB zwar in Betracht, wenn weitere Umstände hinzutreten, die in Verbindung mit einem auffälligen Missverhältnis den Vorwurf der sittenwidrigen Übervorteilung begründen (vgl. Senat, Urteil vom 24. Januar 2014 - V ZR 249/12, NJW 2014, 1652 Rn. 10; BGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 - XI ZR 508/12, NJW-RR 2014, 653 Rn. 16). Selbiges wurde vorliegend aber nicht festgestellt.
Es sei weiter zweifelhaft, ob die Klägerin Rückabwicklung des Kaufvertrags aufgrund des von ihr erklärten Widerrufs (§ 312 Abs. 1 Nr. 1 BGB) bzw. aufgrund der von ihr wegen arglistiger Täuschung (§ 123 Abs. 1 BGB) erklärten Anfechtung des Kaufvertrages verlangen könne.